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Dramaturgie

Voice-over im Film [Updated]

Voice-over ist ein Gestaltungsmittel der Filmkunst, das schon seit den 1930er Jahren eingesetzt wird. Ein Film, der gleich zu Beginn genannt werden muss, ist das von Preston Sturges geschriebene Drama „The Power and the Glory“ (1933), welches nicht zuletzt auch wegen dem Voice-Over als innovativ galt. Nach dem Begräbnis des Eisenbahnpräsidenten Tom Garner unterhält sich dessen Sekretär und alter Freund Henry mit der Gattin über den Verstorbenen. In diesem Gespräch muss der gebrochen wirkende Henry den alten Freund gegen die Kritik seiner Frau verteidigen. In ungefähr der 7. Filmminute springt die Erzählung mit dem Off-Kommentar „When I was a kid …“ in die Kindheit der beiden Männer zurück. Im folgenden wird – nicht chronologisch wohlgemerkt! – die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang Tom Garners erzählt.

Funktionen von Voice-over
Beim Voice-over handelt es sich um eine Stimme oder einen Kommentar, welche ihren Ursprung außerhalb einer Filmszene haben. Das Voice-over kann zu einem Erzähler gehören, der in der erzählten Welt nicht vorkommt (heterodiegetisch), es kann sich aber auch um ein Voice-over aus homodiegetischer Position handeln, also um die Stimme einer Figur aus dem Film, zum Beispiel einer Nebenfigur, die das Geschehen kommentiert. Es können aber auch, wie zum Beispiel im Klassiker „All about Eve“ (1950) verschiedene Formen (multiple Voice-over) kombiniert werden. Wenn es schon mehrere Möglichkeiten zur Verortung von Erzähler/innen gibt, so gibt es noch viel mehr dramaturgische Gründe, deretwegen ein Voice-over zum Einsatz kommen kann.

Mit Voice-over kann Spannung erzeugt werden, wenn zum Beispiel die Zuseher/innen von einer Erzählerstimme darüber informiert werden, dass eine Filmfigur in Gefahr ist. Voice-over ermöglicht den Zugang zu Gedanken, Emotionen und Charakter einer Figur; sie kann genutzt werden, um Kontraste zu erzeugen oder Authentizität herzustellen; sie kann Nähe und Intimität, aber auch Distanz schaffen; sie kann helfen Themen, Figuren und Plots zu verbinden und große Zeiträume zu erzählen und Zeitsprünge zu bewältigen (auch wenn in der Zusammenfassung von Vorgeschichten vielleicht nicht ihr größter Nutzen und Gewinn liegt).

VOICE-OVER IN „DAS WEISSE BAND“
Mit Hilfe des Voice-overs können Gedanken oder Erinnerungen einer in der Szene anwesenden oder auch abwesenden Person vermittelt werden, um zum Beispiel wichtige Informationen zur Backstory einer Figur zu geben. Anders verhält es sich, wenn eine Erinnerung die Rahmenhandlung für eine Story bildet. Zum Beispiel beginnt „Das weiße Band“ (2009) mit der eineinhalbminütigen Voice-Over einer Figur, die in diesem historischen Ensemblefilm von Michael Haneke eine wichtige Rolle spielt. Bei diesem extradiegetisch-homodiegetischen Voice-over handelt es sich um die Stimme eines alten Mannes, der sich an die Ereignisse in einem Dorf vor dem 1. Weltkrieg erinnert, in dem er Lehrer war.

„Ich weiß nicht, ob die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, in allen Details der Wahrheit entspricht. Vieles darin weiß ich nur vom Hörensagen und manches weiß ich auch heute, nach so vielen Jahren nicht zu enträtseln und auf unzählige Fragen gibt es keine Antwort, aber dennoch glaube ich, dass sich die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben, erzählen muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land, ein erhellendes Licht werfen können. Begonnen hat alles, wenn ich mich recht entsinne, mit dem Reitunfall des Arztes. Nach seiner Dressurstunde im herrschaftlichen Reitstall war er auf seinem Ausritt erst zu seinem Hause geritten um nach eventuell eingetroffenen Patienten zu sehen. Beim Betreten des Grundstücks stolperte das Pferd über ein kaum sichtbares, zwischen den Bäumen gespanntes Drahtseil. Die Tochter des Arztes hatte den Unfall vom Fenster des Hauses aus beobachtet und konnte die Nachbarn verständigen, die wiederum im Gutshof Nachricht gaben, sodass der unter schrecklichen Schmerzen Leidende schließlich ins Krankenhaus der mehr als 30 km entfernten Kreisstadt gebracht werden konnte. Die Nachbarin, eine allein stehende Frau um die 40, war die Hebamme der Dorfes, die im Hause des Arztes seit dem Kindbetttod von dessen Frau eine unentbehrliche Stellung als Haushälterin und Sprechstundenhilfe inne hatte. Nachdem sie die beiden Kinder des Arztes versorgt hatte, kam sie zur Schule um Karl, ihren eigenen Sohn zu holen.“

Das Voice-over in „Das weiße Band“ wird sicher noch oft untersucht, an dieser Stelle sei nur soviel gesagt: Ihre Wirkungen sind vielfältig. 1) Das Voice-over erzeugt Plotspannung; 2) durch die Distanzierung (der Erzähler erinnert lange zurück Liegendes), den Ton und die Wortwahl des Erzählers bekommen die Ereignisse eine über die Story hinausweisende Bedeutung; 3) das Voice-over schafft eine Verbindung zwischen der Figuren und ihren Erfahrungen und gibt Letzteren einen über das persönliche Schicksal hinausweisenden Sinn.

VOICE-OVER IN „GOOD BYE, LENIN!“
Voice-over kann ein wichtiges Gestaltungsmittel für den Ton und damit eine Stütze für das Genre eines Films sein. Die deutsche Tragikomödie „Good Bye, Lenin!“ (2003) zum Beispiel beginnt mit dem Off-Kommentar der Hauptfigur Alex (Daniel Brühl), in welchem dieser in ironischem Ton zu Beginn das einschneidende Ereignis der DDR-Flucht seines Vaters und deren Konsequenzen für die Restfamilie zusammenfasst:

„Am 26. August 1978 waren wir auf Weltniveau: Sigmund Jähn, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) flog als erster Deutscher ins All. Mit unserer Familie aber ging es an diesem Tag so richtig den Bach runter (…) Während Sigmund Jähn in den Tiefen des Kosmos tapfer die Sache der DDR vertrat, ließ sich mein Erzeuger im kapitalistischen Ausland von einer Klassenfeindin das Gehirn weg vögeln. Er kam nie mehr zurück.“

Zu Beginn des Films werden durch das Voice-over also einerseits Informationen zur Backstory gegeben, durch den visuellen Stil des Film und das Voice-over wird aber auch etabliert, dass es sich In „Good Bye, Lenin!“ um einen Film handelt, der mit Ironie auf persönliche Schicksalsschläge, sowie auf  gesellschaftliche Umbrüche blickt. Dieser ironische Blick und Ton fördert nicht zuletzt die Sympathie für eine Hauptfigur, deren Verhalten durchaus nicht nur als Liebesbeweis für die sterbende Mutter gesehen werden kann.

VOICE-OVER IN „KOTSCH“
Einen ironischen Ton schlägt auch das Voice-Over in „Kotsch“ (2006) an. Die österreichische Komödie bekam den Off-Kommentar, als man im Schnittprozess erkannte, dass sich der Charakter und das Innenleben der Hauptfigur den Zuschauer/inne/n nicht ausreichend erschließen würde. Mit dem Voice-over hat „Kotsch“-Autor Gregor Stadlober aber nicht nur Zugang zur Hauptfigur geschaffen, mit dem Dialog zwischen der Hauptfigur Alf und einer Therapeutin hat er auch eine spezielle Form des Off-Kommentars entwickelt, wie sie in ähnlicher Weise äußerst selten (z. B. „Casino“) vorkommt:

Er: „Ja, so war des damals, was soll i da schon groß erzählen?“
Sie: „Fangens einfach amal an.“
Er: „Die Gschichte is eh ganz einfach… aber es is halt alles sehr kompliziert a irgendwie.. Weil, zum Beispiel, wo fangt ma da an? Wissenswasimein?“
Sie: „Mhm“
Er: „I mein sicher, am Anfang halt, in der Kindheit und so wahrscheinlich, aber so was großartig Wichtiges is da halt a net passiert dass ma sagen könnt: schau her, jetzt geht’s los, eh klar, so hat des ganze angfangen. Zerst war ma halt mir klein und Fohnsdorf groß – das größte Dorf Österreichs und der tiefste Braunkohlenschacht Europas. Dann san wir gwachsen und Fohnsdorf is gschrumpft, aber uns is da trotzdem nix abgangen und wir haben uns a einiges einfallen lassen dass net fad wird, weil beim Zeitvertreiben kann ma sagen, da warn wir echt Weltmeister…“

Kritik an der Voice-Over
Abgesehen davon, dass Voice-over vermutlich in Zusammenhang mit Literaturadaptionen einigen Schaden genommen hat, wird gegen sie argumentiert, dass in der Filmkunst filmspezifische Mittel (zum Beispiel Bildmotive, Kamerabewegungen, Montage) der verbalen Vermittlung vorzuziehen seien. Dabei wird gerne übersehen, dass es sich beim Film um eine audiovisuelle Kunst handelt und dass nicht wenige Filme dem Voice-over viel zu verdanken haben, so hat es dazu beigetragen, dass Filme wie „Dr. Strangelove“ (1964), „A Clockwork Orange“ (1971), „Taxi Driver“ (1976), „Badlands“ (1973), „American Beauty“ (1999), „Fight Club“ (1999) oder auch „Le fabuleux destin d’Amélie Poulain“ (2001) unvergesslich wurden. Mit der erfolgreichen Geschichte des Voice-overs hat sich Sarah Kozloff in ihrem 1989 erschienen Buch „Invisible Storytellers: Voice-Over Narration in American Fiction Film.“1 ausführlich beschäftigt. Ausdruck verliehen hat sie ihrer Wertschätzung für das Voice-over auch in einem jüngeren Artikel. Darin bietet sie nicht nur einen Abriss über die wichtigsten Filme mit Voice-over, sondern wirft auch die Frage auf, warum Voice-over trotz aller Vorteile seit jeher in Frage gestellt wird – unter anderem auch in einer berühmt gewordenen Filmszene im Spielfilm „Adaptation“ (2002):

Literaturhinweis
1 Kozloff, Sarah: Invisible Storytellers: Voice-Over Narration in American Fiction Film. Univ of California Press (1989).

Related Links:
Go Into The Story: So-Called Screenwriting „Rules“ Part 12: Voice-Over Narration
Kozloff, Sarah: A Defense of Voice-Over Narration
Michael Niehaus: Voice over. Eine filmnarratologische Bestandsaufnahme.

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Diskussionen

Ein Gedanke zu “Voice-over im Film [Updated]

  1. i like! in der fortsetzung bitte was zur frage, ob es via voice over eine grauzone zwischen essay- und spielfilm gibt

    Verfasst von greogr | Oktober 2, 2012, 12:43 pm

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