Nonlinearität in der Literaturadaption „We need to talk about Kevin“
In einem umfangreichen Briefroman (Ullstein Taschenbuch, 560 Seiten) hat die Autorin Lionel Shriver eine verhängnisvolle Familiengeschichte aufgeschrieben, die um den Amoklauf des Sohnes herum aufgebaut ist. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Mutter. 2011 hatte die Adaption von „We need to talk about Kevin“ beim Cannes Film Festival ihre Premiere.
Die Verfilmung von Regisseurin Lynne Ramsay („Ratcatcher“) hat an der Kinokasse* nicht unbedingt gut abgeschnitten, obwohl der Regisseurin eine von der Kritik durchaus gelobte Umsetzung gelungen ist. Die positive Kritik dürfte sich nicht zuletzt ihrem Bemühen, einerseits der Vorlage gerecht zu werden und andererseits ein analoges eigenständiges filmisches Werk zu schaffen, verdanken. Ersteres ist ihr etwas besser gelungen, als Letzteres. Das ist in Anbetracht der literarischen Vorlage schon viel, denn bei der handelt es sich in mehrerlei Hinsicht um eine Herausforderung.
Adaption der Handlungsstrukur
Der Roman ist einerseits sehr handlungsreich, gleichzeitig aber auch gespickt mit unzähligen Reflexionen der etwa 55-jährigen Eva Katchadourian, welche für das Verständnis der Geschichte unentbehrlich sind. Eine weitere Herausforderung ist die nichtlineare Struktur des Romans. Wie in einem Artikel über Struktur und Themen des Romans schon einmal ausführlicher beschrieben wurde, besteht der Briefroman aus zwei parallelen Erzählsträngen: Auf der einen Ebene wird die Gegenwart (ca. ein halbes Jahr) der Hauptfigur Eva Katchadourian erzählt und auf einer anderen Ebene wird in Rückblenden eine fast 20-jährige Familiengeschichte erinnert, die mit dem Massenmord des Sohnes endet. Zwischen diesen Ebenen bewegt sich die Erzählerin vor und zurück. Die Verfilmung geht hier noch weiter. Mindestens drei Erzählstränge verlaufen parallel. Auf einer Ebene wird – nicht gänzlich chronologisch – die Familiengeschichte erzählt. Parallel dazu folgt die Erzählung Eva Katchadourian an jenem Tag, an dem das Unglück passiert. Der dritte Erzählstrang zeigt das Leben von Eva ungefähr eineinhalb Jahre nach dem verhängnisvollen Tag. Auf einer vierten Ebene ist immer wieder Franklins Stimme zu hören: Erinnerungen an Gesagtes (wirkt auf der Ebene des emotionalen Themas).
Form und Figur
Während Regisseurin Ramsay auf die Struktur und damit auch auf die Spannungsdramaturgie des Buches aufbaut, verzichtet sie darauf, eine Entsprechung für die Form des Briefromans zu finden. Es liegen aber gerade in dieser Form einige der Stärken des Romans begründet: Einerseits die Spannung, weil man bis zum Schluss nicht weiß, was es mit den Briefen an Franklin auf sich hat, bzw. was mit ihm und der Tochter passiert ist (dieses Element übernimmt Ramsay in den Film). Ein Aspekt, der im Film fehlt, ist der Ton der Briefe, der viel über die Persönlichkeit der Hauptfigur und in Zusammenhang damit auch etwas über die Ursachen des Unglücks aussagt. Die Hauptfigur im Buch ist zwar durch die Tragödie zu Boden gegangen, in den Briefen erwacht aber ihr altes widerspenstiges ICH, welches die Ereignisse zu reflektieren und zu durchdringen versucht. Im Film ist sie viel mehr eine Gejagte und eine Gefangene ihrer Erinnerungen. Es handelt sich bei diesen Szenen im Film weniger um Rückblenden, in denen die Vergangenheit reflektierend nacherzählt wird, als vielmehr um assoziative Flashbacks, die sie plagen. In der filmischen Umsetzung wirkt die Hauptfigur verloren. Diese Wirkung wird von unscharfen Bilden und einer unsteten Kamera unterstützt.
Die Wirkung des Films entspricht also nicht unbedingt der Wirkung des Romans, aber nicht zuletzt ist das Werk als Beispiel für die Auflösung von Linearität im Film interessant.
*Die britisch-amerikanische Produktion hat geschätzte $ 7 Millionen gekostet und weltweit ca. $ 6 Millionen eingespielt. In Europa hat der Film € 518.088 eingespielt.
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