
Photograph of the scene in Somerset County, Pennsylvania, where United Airlines Flight 93 crashed (Photo credit: Wikipedia)
„United 93“ von Paul Greengrass erzählt quasi-dokumentarisch und frei von jeglicher Melodramatik die Ereignisse vom 11. September 2001. Unzählige Menschen haben ihre eigene Version von diesem Tag, je nachdem, ob sie zum Zeitpunkt der Tragödie in NYC Downtown unterwegs waren oder in einer mit Sat-Antenne ausgestatteten Berghütte saßen. Regisseur Greengrass hat sich für zwei Perspektiven entschieden: Für die der Fluglotsen, die in den Flugverkehrskontrolltürmen von der Katastrophe überrascht wurden und für die Perspektive der Opfer, die in der Absturzmaschine Flug United Airlines 93 ihr Leben gelassen haben.
HANDLUNGSEBENEN
Warnsignale
In den zivilen Luftüberwachungszentren treffen über Monitore alarmierende Signale ein, die selbst für den hektischen Arbeitsalltags der Flugkontrollüberwachung ungewöhnlich sind. Doch trotz der Vorwarnungen wird den Fluglotsen das Ausmaß der Katastrophe erst bewusst, als auf ihren TV-Bildschirmen das World Trade Center implodiert.
Der Angriff
Die nationale Flugüberwachung, die den Verkehr von 4.200 Maschinen im Luftraum der USA steuert, wird als hektischer Betrieb eingeführt, der schon unter normalen Umständen, eine große Herausforderung darstellt. Nun gibt es offenbar eine Flugzeugentführung, die diese Hektik steigert. Mit dem Bekanntwerden von weiteren – echten und vermeintlichen – Flugzeugentführungen bricht Chaos aus. Auf der einen Seite steht die zivile Luftsicherung, die nicht die Mittel und Befugnisse hat, auf den Angriff zu reagieren und auf der anderen Seite die militärische, die zwar für den Notfall trainiert ist, deren Krisenstrategien im Ernstfall aber offensichtlich versagen.
Die Verteidigung
Die Verteidigung übernehmen stellvertretend im letzten Drittel des Films die Passagiere von Flug 93. Sehr lange weiß nur der Zuschauer von der Gefahr, in der sich die Passagiere befinden. Die Bedrohung wird für die Betroffenen erst in der Mitte des Filmes erkennbar und dann dauert es weitere 20 Minuten, bis sie erfassen, dass sie zum Tode verurteilt sind. Danach gehen sie zum Gegenangriff über: Sie setzten sich gegen die Terrorsiten zur Wehr. Die Passagiere erreichen zwar nicht ihr ureigenes Ziel (das Überleben), aber sie erreichen stellvertretend das „größere“ Ziel: indem die Maschine zum Absturz gebracht wird, wird sie das von den Terroristen anvisierte – strategisch wichtige – Ziel nicht erreichen.
TIMELINE
Minute 0 – 17: Exposition (Flugbetrieb, Flugsicherungsbetrieb, Fluggäste und Attentäter beim Boarding)
Minute 15: Foreshadowing auf die Flugzeugentführung (wo ist Flug AA 11?)
Minute 17 – 25: Phase vom ersten Verdacht einer Flugzeugentführung bis zur Gewissheit (aber noch keine Erkenntnis über das Ausmaß das Katastrophe)
Minute 28: Foreshadowing auf das Ausmaß der Katastrophe (Hinweis auf mehrere Flugzeuge)
Minute 29: Flug 93 startet
Minute 35: WTC brennt
Minute 42: Zweites Flugzeug fliegt in das WTC
Minute 42 – 78: Erkenntnis, dass das Land angegriffen wird und Versuch in die Verteidigung zu gehen
Minute 58: Attentäter bringen die Maschine von Flug 93 in ihre Gewalt
Minute 68 – 96: Die Fluggäste von Flug 93 versuchen sich zu befreien
Minute 96: Flug 93 wird vom Attentäter zum Absturz gebracht, ohne das Ziel erreicht zu haben
FIGUREN
„United 93“ hat keine Figuren, die den Zuschauer mit den geläufigen Identifikationsmechanismen bindet und dennoch ist man extrem berührt und involviert. Paul Greengrass hat erkannt, dass ein viel zitierter – nach der Tragödie von 9/11 von einem deutschen Politiker ausgegebener – Slogan, auch nach Jahren noch funktioniert: „Wir sind alle Amerikaner“:
Es geht in „United 93“ nicht um Einzelschicksale oder individuelle Konflikte. Davon erfahren wir nichts. Es geht viel mehr darum, was die Menschen auf dem Todesflug verbindet: nämlich die schockierende Erkenntnis, dass sie sterben werden. Obwohl niemand dazu bereit ist, verabschieden sie sich nacheinander im Ferngespräch von ihren Familien.
WIRKUNG
Als Zuschauer von „United 93“ spürt man dem nach, wie Menschen in einer der größten Niederlagen der amerikanischen Geschichte gestorben sind. Hier wirkt weniger die filmische Erzählung, als vielmehr die medialen Bilder und Erzählungen, die wir seit 9/11 nicht verarbeiten konnten. Die Diskrepanz zwischen dem Angreifer und dem Ziel bei diesem Angriff ist überwältigend: Die Tradition bringt die Moderne zum Einsturz. Der Archetyp besiegt den multiplen Multitasker. Wir sind (wieder) fassungslos und schockiert.
9/11 war ein zerstörerischer Akt, der eine mediale Verbreitung und ein kollektives Opfer-Trauma sondergleichen zur Folge hatte. Die Suche nach vergleichbaren Ereignissen, die filmisch adaptiert wurden, führt zu interessanten Ergebnissen: Die Wirkung von „United 93“ ähnelt der Wirkung des Fernsehfilms „The day after“ (1983). Der US-amerikanische Film erzählt von einem zerstörerischen Atomkrieg. Der Atompilz – identisch mit den Bildern, die wir von Hiroshima kennen – ist das Angst einflößende Bild, von dem wir seit Hiroshima wissen, das es keine Science Fiction, sondern eine reale Gefahr ist. Ein Bezug lässt sich auch zu Orson Welles‘ vermeintlicher Live-Berichterstattung vom Angriff Außerirdischer herstellen. Letzteres war freilich nur eine Adaption von Wells‘ „Krieg der Welten“ für das Radio, aber der Schock, den die Zuhörer erlebt haben dürften, könnte durchaus mit dem Erleben der Bilder von 9/11 verwandt sein.
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